Anscheinsbeweis auch bei berührungslosem Unfall mit Motorrad

    • Verkehrsrecht

BGH-Urteil vom 03.12.2024 (VI ZR 18/24, BeckRS 2024, 38783)

Ein Anscheinsbeweis, der beim Auffahrunfall für einen schuldhaften Verstoß des Hintermanns gegen § 4 Abs. 1 Satz 1, § 3 Abs. 1 Satz 4 oder § 1 Abs. 2 StVO spricht, kann auch dann eingreifen, wenn ein Motorradfahrer hinter einem stark abbremsenden Pkw ohne Berührung der Fahrzeuge stürzt und es nur durch Zufall nicht zu einer Kollision mit dem Vorausfahrenden kommt.

Der Kläger fuhr mit seinem Motorrad auf einer Landstraße. Vor ihm befand sich ein Pkw, hinter ihm ein weiteres Motorrad. Die zulässige Höchstgeschwindigkeit betrug 70 km/h. Die Beklagte zu 1. war mit ihrem, bei der Beklagten zu 2. haftpflichtversicherten, Pkw in der Gegenrichtung unterwegs. Ihre Fahrbahn war aufgrund eines Müllabfuhrfahrzeugs, das gerade beladen wurde, blockiert. Um daran vorbeizufahren, wechselte die Beklagte zu 1. auf die Gegenfahrbahn. Ein entgegenkommender Pkw musste stark bremsen, um eine Kollision zu vermeiden, woraufhin auch der hinter diesem Fahrzeug fahrende Kläger eine Vollbremsung machte. Da sein Motorrad kein Anti-Blockier-System (ABS) hatte, geriet es ins Rutschen, und der Kläger stürzte, wobei er sich schwere Verletzungen zuzog. Eine Kollision mit dem vorausfahrenden Pkw fand nicht statt, und der Motorradfahrer hinter dem Kläger konnte sicher abbremsen.

Der Kläger hat in seiner Klage beantragt festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, ihm alle bisherigen, gegenwärtigen und zukünftigen materiellen sowie immateriellen Schäden aus dem Unfall auf Basis einer 100%-Haftungsquote zu ersetzen, es sei denn, der Anspruch ist bereits auf Dritte übergegangen. Das Landgericht hörte Zeugen zum Unfallhergang, befragte den Kläger und die Beklagte zu 1., holte ein schriftliches Sachverständigengutachten ein und wies die Klage ab. In der Berufung änderte das Oberlandesgericht ohne eigene Beweisaufnahme das Urteil des Landgerichts teilweise und stellte eine Haftungsquote von 40 % zu Lasten der Beklagten fest. Die weitergehende Berufung des Klägers wurde zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Ziel weiter, während die Beklagten mit ihrer Anschlussrevision die Wiederherstellung des Urteils des Landgerichts anstreben.

Der BGH bestätigte, dass eine Haftung nach § 7 Abs. 1 und § 18 Abs. 1 StVG auch bei einem „Unfall ohne Berührung“ bestehen kann. Dies gilt, wenn das Verhalten eines Fahrzeugführers das Fahrverhalten eines anderen Verkehrsteilnehmers beeinflusst und dadurch zu einem Schaden führt. Diese Entscheidung erweitert den Haftungsumfang bei Verkehrsunfällen erheblich.

Das Gericht wandte den sogenannten Anscheinsbeweis an, der in der Regel für ein schuldhaftes Verhalten des auffahrenden Fahrzeugs spricht – selbst dann, wenn es nicht zu einer tatsächlichen Kollision gekommen ist. Der BGH führte aus, dass ein Sturz eines Motorradfahrers typischerweise auf ein Fehlverhalten des hinterherfahrenden Fahrzeugs hindeute. Diese Auslegung stärkt die rechtliche Position von Unfallgeschädigten in vergleichbaren Fällen.

In seiner Entscheidung hob der BGH das Urteil der Vorinstanz auf, dass eine Haftungsquote von 40 % auf Seiten des Autofahrers angenommen hatte. Der BGH betonte die Bedeutung einer sorgfältigen und umfassenden Würdigung aller relevanten Umstände bei der Ermittlung der Haftungsverteilung. Damit unterstreicht das Gericht die Komplexität der rechtlichen Bewertung von Verkehrsunfällen.

In der Konsequenz verschuldete der Kläger seinen Sturz selbst, da er seine Fahrt mit einem Motorrad ohne ABS nicht den konkreten Gegebenheiten (Sicherheitsabstand) angepasst hatte und deshalb auf Grund der Gefahrenbremsung stürzte.

Dieses Urteil hat weitreichende Konsequenzen für die Bewertung von Verkehrsunfällen:

  1. Erweiterte Haftung: Eine Verantwortlichkeit kann auch dann bestehen, wenn es keinen direkten Kontakt zwischen den beteiligten Fahrzeugen gab.
  2. Sorgfaltspflicht: Verkehrsteilnehmer müssen jederzeit besonders aufmerksam sein und ihr Fahrverhalten den konkreten Gegebenheiten anpassen.
  3. Beweislastregelung: Der Anscheinsbeweis spielt auch bei Unfällen ohne physische Kollision eine bedeutende Rolle.
  4. Einzelfallbetrachtung: Jeder Unfall ist unter Berücksichtigung aller individuellen Umstände gründlich zu analysieren.
Sebastian Mimietz
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